Wann es Zeit für die Heilung ist
von Sayeda
Oder: Warum sie manchmal nicht sofort erfolgen kann

Wie uns Wunden zugefügt werden
Wir alle wachsen in einem Umfeld auf, dass von unseren Erziehungsberechtigten mit entsprechenden Erwartungen und Vorstellungen gefüllt ist und im Grunde auch mit der Forderung, diese zu erfüllen. Das ist grundsätzlich nicht verkehrt, solange die Erwartungen und Vorstellungen nachvollziehbar sind und mit entsprechender Konsequenz um- und durchgesetzt werden. Stellt beispielsweise ein Kind etwas an, was den Vorstellungen der Eltern überhaupt nicht entspricht, dann wird es durch die entsprechende Sanktion wieder in die Spur gebracht. Stellt es etwas an, indem es z.B. einem anderen Kind weh tut, dann wird beispielsweise durch Entzug eines geliebten Spielzeugs bestraft und dazu aufgefordert sich beim verletzten Kind zu entschuldigen. So erfährt das Kind auch Schmerzen, aber diese sind notwendig, damit es seine Verfehlung begreift und sein Verhalten künftig entsprechend ausrichtet.
Allerdings gibt es auch Ausgangssituationen, die rational überhaupt nicht nachvollziehbar sind und allein aus diesem Grund schon tiefe seelische Schmerzen bereiten. Zur Veranschaulichung betrachten wir zwei Beispiele: Erlebt man als junges Mädchen von Eltern auferlegte Restriktionen, die nur daher rühren, dass das Mädchen nun mal ein Mädchen ist, während es erlebt, welche Freiheiten den Söhnen im Haushalt gewährt werden, wird das zumindest als ungerecht empfunden. Der Wunsch nach Gleichberechtigung oder zumindest Auflockerung wird entweder ignoriert oder schlicht noch stärker unterdrückt. Diese Form der Behandlung fügt tiefe Wunden hinzu, die auch nicht verheilen können, weil die Situation immer noch präsent ist.
Ein anderes Beispiel wäre ein gewalttätiger Ehemann, der seine Ehefrau behandelt und die Kinder bedroht. Auch in dieser Situation erleiden die Betroffenen tagtäglich neue Wunden, die immer tiefer gehen, aber nicht angeschaut werden können, weil die Situation akut ist.
In beiden Fällen, spitzt sich die Situation immer mehr zu, bis zumeist von den Betroffenen eine Handlung erfolgt, um diese aufzulösen und zumindest für eine gewisse Erleichterung zu sorgen. Da es sich bei diesen Handlungen aber zunächst nur um den ersten Schritt handelt, sind auch dadurch noch nicht die Voraussetzungen für die Heilung geschaffen.
Warum die Wunden verdrängt werden
Das junge Mädchen wird höchstwahrscheinlich entweder zusammenbrechen oder, wenn es über genug Willenskraft verfügt, den Ausbruch wagen, um seinen eigenen Weg zu finden. Die Ehefrau wird, falls sie die nötige Stärke verfügt, sich von ihrem gewalttätigen Ehemann lösen, weil sie sich selbst und vor allem ihre Kinder schützen will.
In beiden Fällen ist eine Schmerzgrenze erreicht, die es unmöglich macht, noch weitere Misshandlungen oder Einschränkungen zu erdulden und in der Konsequenz wird man schließlich tätig. Das ist zwar durchaus zu begrüßen, jedoch verlangt dies auch eine Menge Arbeit.
Das Mädchen, das seinen eigenen Weg finden will, muss für sich Möglichkeiten finden, die seinen weiteren Werdegang ermöglichen. Es muss Wohnraum und eine Möglichkeit, Geld zu verdienen, finden. Das verlangt vorausschauendes Denken und genauso entsprechende Planung.
Die Ehefrau muss sich höchstwahrscheinlich darüber informieren, welche Anlaufstellen ihr für ihre Lage am besten helfen können. Zusätzlich braucht sie vielleicht auch rechtlichen und finanziellen Beistand, um die Situation zu überbrücken und muss zusätzlich auch noch für ihre Kinder da sein.
In solchen Phasen sind zwar die zugefügten Wunden der Motor für die Handlung, sie selbst werden jedoch weitestgehend verdrängt und das ist auch nur verständlich. Im Bestreben eine schmerzfreiere Umgebung für sich und seine Nächsten zu schaffen ist man aufgrund der notwendigen Planung gezwungen bis auf weiteres schlicht zu funktionieren. Es ist schlicht keine Zeit, sich den tief liegenden Wunden zu widmen, weil sie einem die Kraft zur Handlung rauben. Für den eingeschlagenen Weg wird jedoch vorübergehend alle Aufmerksamkeit und Kraft darauf ausgerichtet, das angestrebte Ziel zu erreichen. Das kann Wochen, Monate oder gar Jahre dauern, abhängig von den vorhandenen Ressourcen und Hilfsmöglichkeiten.
Man vergisst dabei die Wunden nie ganz, sie bleiben im Unterbewusstsein vergraben, bis die Situation geklärt ist. Es ist auch möglich, dass man sie vorübergehend vergisst, aber sie verschwinden nicht.
Wenn die Wunden sich irgendwann ins Bewusstsein bahnen
Abhängig davon, wie viel Zeit beansprucht wird, bis eine belastende Situation in eine annehmbare umgewandelt wurde, kommt irgendwann der Zeitpunkt, an dem man sich den verdrängten Schmerzen stellen muss; ob man will oder nicht. Sehr häufig wird dabei die aktuelle Situation als nicht passend empfunden, weil man persönlich noch einige Schritte zu Ende gehen möchte, aber objektiv handelt es sich dabei um Details, die beim genaueren Hinsehen auch später angegangen werden können.
Oft entwickelt sich das Leben ohnehin in die notwendige Richtung, um seine Aufmerksamkeit nach innen zu richten und im Grunde ist das auch gut so. Ein glückliches Leben kann nicht begonnen werden, wenn die Seele immer noch unter den zugefügten Wunden leidet und deshalb nicht nach vorne schauen kann. Das weitere Leben wird weiterhin beeinträchtigt, weil sie unterschwellig mitschwingen und negative Resonanzen erzeugen, die es uns unmöglich machen, Freude oder gar Glück zu empfinden.
Da man die zugefügten Wunden und die damit verbundenen Schmerzen jedoch lange verdrängt hat, ist es zunächst schwierig, genau hinzuschauen. Das erfordert eine gewisse Zeit, wenn man jedoch willens und bereit ist, sich den schlummernden Emotionen zu stellen, wird man sie auch aushalten.
Die verdrängten, sehr schmerzhaften Emotionen sind dabei nicht zu unterschätzen! Es handelt sich hierbei um einen über Jahre immer größer gewordenen Klumpen Schmerz, von dem man sich nicht einfach von heute auf morgen befreien kann. Diese Gefühle zuzulassen und sich von ihnen zu befreien, ist ein langwieriger und anstrengender Prozess, der viel abverlangt. Während dieser Zeit ist es wichtig, Geduld und Verständnis mit sich zu haben und sich vor Augen zu führen, was man trotz dieser Wunden geleistet hat. Das ist nicht selbstverständlich und daher umso bemerkenswerter.
Heile also und nimm dir dafür Zeit. Du hast sie dir verdient.
Alles Liebe
Sayeda