Der Sinn von Zorn

von Sayeda

Oder: Wann man seinem Ärger Luft machen kann

Wut muss wie Trauer auch zugelassen werden

Warum man Wut unterdrücken soll

So gut wie jeder kennt diese Situation: Es passiert eine Kleinigkeit oder Situationen entwickeln sich in eine unschöne Richtung und in uns beginnt es zu kochen. Das brennende Gefühl steigt auf und wir versuchen unsere Wut zuerst durch tiefes Einatmen zu beherrschen. Irgendwann bemühen wir uns so sehr darum, dass wir beginnen zu zittern und entweder beruhigen wir uns, werden von der Wut übermannt oder geben ihr sogar freiwillig nach. Anders gesagt, sehen wir plötzlich rot.

Geraten wir in einen solchen Zustand, sind wir meist schwer einzuschätzen, bisweilen sogar unberechenbar. Es ist gut möglich, dass wir im Rausch der Wut Dinge tun oder sagen, deren Konsequenzen uns erst später bewusst werden und wir daraufhin bereuen. Wir neigen dabei zu rücksichtslosem Verhalten gegenüber unseren Mitmenschen, wodurch wir sie verletzen.

Das schlimmste daran ist, dass wir den Schaden nicht mehr beheben können und damit leben müssen. Schuldgefühle stellen sich ein, die ebenfalls alles andere als angenehm sind. In unserer Gesellschaft wird es nicht gern gesehen, dass jemand losbrüllt oder ausrastet, weil das für einen Mangel an Selbstkontrolle spricht und zudem auf Unsicherheit hindeutet. Man bezeichnet dann solche Menschen als aggressiv oder kindisch.
All diese Punkte sind stichhaltige Argumente dafür, dass es nicht ratsam ist, sich von seiner Wut überrollen zu lassen. Langfristig belastet es nur einen selbst und das Umfeld. Allerdings gibt es da noch eine andere Seite.

Wut und Aggression sind zwei verschiedene Dinge

Die andere Seite ist die der Aggression. Es ist nämlich ein großer Unterschied, ob man tatsächlich wütend oder aggressiv ist. In unserer Gesellschaft werden diese beiden Begriffe vollkommen unbedacht miteinander vermischt, obwohl es einen deutlichen Unterschied zwischen ihnen gibt.

Die richtige Definition von Aggression lautet: Willkürliche Empörung oder Aufregung ohne nachvollziehbaren Grund. Aggressive Menschen gehen schon wegen Kleinigkeiten an die Decke. Mit Kleinigkeiten bezeichnet man Dinge wie: Das bestellte Eis wird mit Sahne gebracht, obwohl man ohne bestellt hat. Beim Bügeln des Hemdes hat man eine Falte übersehen oder anstatt des Leibgerichtes Nudelauflauf gibt es Kartoffelsuppe. Es gäbe noch zig weitere Beispiele, um zu verdeutlichen wegen welcher Nichtigkeiten Menschen sich aufregen können.

Beim Gefühl Wut handelt es sich jedoch um eine vollkommen andere Geschichte. Kommt eine Person zu einer wichtigen Verabredung deutlich zu spät, oder erscheint anders herum überhaupt nicht und sagt nicht mal Bescheid, lässt uns also im Stich, dann geht es um eine viel tiefer liegende Ursache. Wut ist ein Gefühl, das entsteht, wenn unsere Werte verletzt werden oder unsere Persönlichkeit spürbar verletzt wird. Sind wir z.B. verabredet und der oder die andere erscheint nicht, ohne sich auch nur zu melden, fühlen wir uns nicht wertgeschätzt. Leisten wir die gleiche Arbeit wie ein Kollege und werden bei einer Beförderung aber übergangen, ist das zweifelsohne ungerecht.

Andere noch berechtigtere und somit gewichtige Gründe für Wut sind nicht verarbeitete negative oder gar traumatische Erfahrungen in unserer Kindheit. Es ist durchaus nachvollziehbar, wenn man auf seine Eltern wütend ist, weil sie die Fürsorge vernachlässigt haben oder auf einen Klassenkameraden, der uns gehänselt oder verprügelt hat. Dabei handelt es sich nicht um Kleinigkeiten, die man nach einer gewissen Zeit wieder vergisst, sondern um Wunden, die tief in uns geschlagen wurden und möglicherweise bis in die Gegenwart reichen.

Wut ist ein Schutz-und Verteidigungsmechanismus, der uns dabei hilft, unsere Grenzen wirksam zu setzen und für uns und unsere Werte einzustehen, wenn Situationen dies erfordern. Aus vielen schädlichen Situationen oder Beziehungen kann man sich erst lösen, wenn genug Wut vorhanden ist, weil erst dann die nötige Kraft frei wird. Zorn ist die Steigerung von Wut, die eintritt, wenn wir wiederholt verletzt werden.

Natürlich soll man nicht ewig angestaute Wut jahrelang mit sich herumschleppen. Man muss sie verarbeiten, damit man sie anschließend loslassen kann. Das tut man aber nicht, indem man sie in sich hineinfrisst oder verdrängt, sondern seinem Ärger sprichwörtlich Luft macht.

Es gilt, Wut und Aggression bewusst auseinanderzuhalten

Seinem Zorn Raum zu geben, bedeutet allerdings nicht, dass man seinen Gefühlen freien Lauf lassen kann! So berechtigt Wut und Zorn auch sind, es gibt zu keiner Zeit eine Rechtfertigung dafür, dass man ihr nachgibt. So wütend ein Mann im Moment auf seine Partnerin ist, er hat nicht das Recht, ihr gegenüber Gewalt anzuwenden. Genauso haben Eltern keine Befugnis, ihre Kinder mit Schlägen zu züchtigen, weil sie sich schwierig verhalten. Geben wir  unserer Wut nach, ist das immer eine bewusste Entscheidung für die wir die Verantwortung zu tragen haben. Ein erwachsener Mensch hat dazu in der Lage sein, seineGefühle zu beherrschen und nicht umgekehrt.

Wie unterscheidet man also Wut von Aggression? Indem man sich selbst in einer schwierigen Situation bewusst fragt, weshalb gerade die Wut aufkommt. Geht es wirklich nur um eine Kleinigkeit, oder geht es um eine Verletzung einer oder mehrerer Werte? Da man sich durch diese Frage aufs Nachdenken konzentrieren muss, verraucht ein gewisser Teil der Wut bereits während dieses Prozesses. Handelt es sich wirklich um eine Kleinigkeit oder gar Nichtigkeit, verflüchtigt sich die Emotion meist sehr schnell. Sind die Gefühle jedoch berechtigt, spürt man das auch und ist dann trotzdem dazu in der Lage, die Gründe für den eigenen Zustand deutlich mitzuteilen, ohne den Gegenüber zu verletzen.

Es gibt jedoch auch Menschen, die aufgrund ihrer persönlichen Veranlagung oder bisherigen Biografie Schwierigkeiten haben, mit ihrer Wut souverän umzugehen. Da bedarf es z.B. einer Therapie oder der Möglichkeit die Energie tatsächlich loszuwerden. Durch Wut wird Energie frei, die möglicherweise überschüssig in uns stecken bleibt. Da ist es für die Verfassung sehr hilfreich,  regelmäßig Sport zu treiben, um sie loszuwerden. Meditation ist ein guter Weg, um mit sich ins Reine zu kommen, wodurch man zwangsläufig gelassener wird.

Wichtig ist, sich über die Gründe für seine Wut im Klaren zu sein, damit wir sie im Griff haben und nicht sie uns.

Alles Liebe

Sayeda